Die Schlange im Zimmer
Achtsamkeit ist nicht das Gleiche wie Konzentration. Konzentration ist Ausschließung. Achtsamkeit, die umfassendes Gewahrsein ist, schließt nichts aus. Mich dünkt, dass die meisten von uns nicht bewusst sind, nicht nur in Bezug auf das, worüber wir sprechen, sondern auch hinsichtlich der Umwelt, der Farben um uns, der Menschen, der Form der Bäume, der Wolken, des dahinströmenden Flusses. Vielleicht kommt es daher, dass wir so sehr mit uns beschäftigt sind, mit unseren nichtssagenden kleinen Problemen, unseren Gedanken, unseren Vergnügungen, Plänen und ehrgeizigen Bestrebungen, sodass wir nicht unbefangen sehen können. Und doch sprechen wir sehr viel über Bewusstheit.
In Indien reiste ich einmal in einem Auto. Ein Chauffeur steuerte den Wagen, und ich saß neben ihm. Drei Herren diskutierten sehr eifrig über Bewusstheit und stellten mir darüber Fragen. In diesem Augenblick sah der Fahrer unglücklicherweise woanders hin und überfuhr eine Ziege – und die drei Herren diskutierten immer noch über Bewusstheit. Sie hatten überhaupt nicht wahrgenommen, dass sie über eine Ziege gefahren waren. Als die Herren, die so eifrig versuchten, bewusst zu sein, auf diesen Mangel an Achtsamkeit hingewiesen wurden, waren sie sehr überrascht.
Und mit den meisten von uns ist es das Gleiche. Wir nehmen weder die äußeren noch die inneren Dinge wahr. Wenn Sie die Schönheit eines Vogels, einer Fliege, eines Blattes sehen wollen oder einen Menschen mit all seinen Schwierigkeiten zu verstehen suchen, müssen Sie Ihre ganze Aufmerksamkeit, die ein unmitelbares Gewahrsein ist, dafür hingeben. Und Sie können das nur tun, wenn Ihnen daran etwas liegt, wenn es Ihnen zutiefst um das Verstehen zu tun ist – dann geben Sie Herz und Geist daran.
Solch eine unmittelbare Gegenwärtigkeit haben Sie, wenn sich in Ihrem Zimmer eine Schlange befindet. Sie überwachen jede ihrer Bewegungen, Sie reagieren überaus empfindlich auf das leiseste Geräusch, das sie macht. Ein solcher Zustand der Aufmerksamkeit ist geballte Energie. In diesem Gewahrsein reagiert Ihr ganzes Wesen augenblicklich.
Jiddu Krishnamurti: Einbruch in die Freiheit Random House, Lotos
Der Sinn des Erkennens
Während des Vietnamkrieges wur den viele unserer Ortschaften bombardiert. Meine monastischen Brüder und Schwestern und ich mussten uns entscheiden, was wir tun wollten. Sollten wir weiterhin in unseren Klöstern meditieren, oder sollten wir die Meditationshallen verlassen, um den Menschen, die unter den Bombardements litten, spirituelle und praktische Hilfe anzubieten. Nach sorgfältigem Überlegen entschieden wir uns, beides zu tun – hinauszugehen und den Menschen zu helfen und dies achtsam zu tun. Wir nannten das »Engagierten Buddhismus«.
Achtsamkeit muss engagiert sein. Sobald wir erkennen, dass etwas getan werden muss, müssen wir handeln. Sehen, Erkennen und Handeln müssen zusammengehen. Was ist sonst der Sinn des Erkennens?
Wir müssen uns der realen Probleme dieser Welt bewusst sein. Dann werden wir mit Achtsamkeit, Konzentration und Einsicht wissen, was zu tun und was zu unterlassen ist, um hilfreich zu sein. Wenn wir unseres Atmens gewahr sind und weiterhin, auch in schwierigen Situationen, Gleichmut praktizieren, werden viele Menschen, Tiere und Pflanzen von unserer Art und Weise, etwas zu tun, profitieren. Pflanzen Sie Samen der Freude und des Glücks? Ich versuche genau das mit jedem Schritt zu tun. Frieden ist jeder Schritt.
Thich Nhat Hanh: Mein Leben ist meine Botschaft. Autobiografische Geschichten und Weisheiten eines Mönchs. O.W. Barth Verlag