Das Bruttosozialprodukt taugt als Meßgröße für leib-seelischen Wohlstand ungefähr soviel wie die Temperatur als alleinige Kennziffer für die Güte eines Biotops. Bhutan, Ecuador und Bolivien haben das Recht auf gemeinschaftliches Glück bereits in den Verfassungsrang erhoben.
Wolkenkuckucksheimvorteil
Jeremy Bentham, auf’s Todesjahr (1832) genau Zeitgenosse seines schärfsten Kritikers Goethe, beherbergte in seinem Kopf eine wahre Manufaktur visionärer sozialpolitischer Konzepte, welche sich grob auf drei Kategorien verteilen: »furchtbar« gute, entsetzlich miese und erstaunlich unrealistische. Zu ersteren gehören zweifelsohne das allgemeine Wahlrecht für Erwachsene insbesondere für Frauen; die Reform der Kolonialverwaltung; die Zulassung von Gewerkschaften; der kostenlose öffentliche Schulunterricht; die Meinungs- und Pressefreiheit; eine öffentlich finanzierte Gesundheitsreform und vorbeugende Medizin (Bentleycare); die kostenlose Gerichtsbarkeit für Arme; Gratis-Bildung für alle; Verbot von Tierfabriken …
In der zweiten Schublade finden sich das Panoptikum, ein Mustergefängnis mit ständiger Beobachtung von Straftätern, sodass sich der Beamte als Über-Ich in der Psyche der »Verbrecher« einnistet; die satirische Wi-derlegung angeborener Menschenrechte; grenzenloser Freihandel ohne Rücksicht auf gewachsene Strukturen; hyperliberale Lizenz zum Wuchern ohne Zinsdeckelung …

1000 GESTALTEN. »Wir wollen daran erinnern, wie identitätsstiftend Mitgefühl und Gemeinsinn für die Gesellschaft sind.« Video
Und da waren schließlich utopische Forderungen, welche bis vor Kurzem als »Luftburgen« ohne operatives Fundament galten. Bentham genoß den »Heimvorteil« einer eingespielten Halbdemokratie mit eingebauten Privilegien, gestützt auf respektlose Vordenker wie Locke und Hume, was ihn schließlich zu seiner berüchtigten Definition ermutigte:
»It is the greatest happiness of the greatest number that is the measure of right and wrong.« (Gerade am größten Glück der größten Zahl lässt sich »richtig« versus »falsch« [gesellschaftlich] ermessen.)
Unabdingbar für diese Happyness seien nicht nur gesicherte Ernährung, Behausung, Bildung sowie Gesundheit, vielmehr auch allgemeine sexuelle Zufriedenheit, ist doch das erotische Glück »das größte aller Vergnügen, ein freies Gut, für welches im Idealfall nicht einmal nötig ist, das Haus zu verlassen«. Aber wo beginnt die »größte Zahl«? Bei 51 oder erst bei 99%? Und wie lässt sich das »größte Glück« bestimmen?
Keine emotionale Grundsicherung
Genau hier kommt das berüchtigte Bruttonationalprodukt ins Spiel. Das lässt sich auf Heller und Pfennig berechnen, quasi als lustloser Grundumsatz eines halbtoten Gemeinwesens. Begleitet wird der fade kalkulatorische Grundbaß von moralistischen Obertönen ohne Klangfarbe. Unsere soziale Mindestsicherung entspricht den »Rechten« eines Häftlings im Hochsicherheitstrakt. Meinungsfreiheit statt überschäumendem Gedankenaustausch. Anspruch auf Nahrung, aber nicht auf Geschmackserlebnis; auf Kleidung, aber nicht auf Ele-ganz oder auch Nonchalance. Auf intakte – d.h. gesundheitlich unbedenkliche – »Umwelt«, nicht aber auf die Wonne des Frühlingserwachens. Auf regelmäßige Sozialkontakte, doch keineswegs auf die Freuden der Gemeinsamkeit. Buchhaltung des Überlebens, statt Surplus des Lebensstroms!

1000 GESTALTEN. Lehmverkrustete Gestalten tauchten an verschiedenen Orten Hamburgs auf und bewegten sich schweigend durch die Stadt, ehe sie sich von ihren Panzern befreiten – Bilder des Aufbruchs und des gemeinsamen, solidarischen Handelns. Video
All dies und noch mehr muss der 23jährige König von Bhutan, Jigme Singye Wangchuck, im Hinterkopf gehabt haben, als er 1979 von einem indischen Reporter nach dem BNP seiner kleinen buddhistischen Enklave im östlichen Himalaya gefragt wurde und, wohl weil keine Zahlen vorlagen, betonte, dass für sein Volk das »Bruttoglücksprodukt« ausschlaggebend sei.
Erst unter seinem Sohn, der als mittlerweile konstitutioneller Monarch 2006 den Thron bestieg, bekam der romantische Begriff pragmatische Konturen. Jigme Khesar Namgyel Wangchuck beauftragte einen permanent tagenden Expertenstab mit der Evaluierung und Erhebung relevanter Glücksparameter. Inzwischen wurden die »Vier Säulen« des Bruttonationalglücks, nämlich soziale Gerechtigkeit, kulturelle Wertschöpfung, Naturschutz sowie bürgerfreundliche Institutionen in »Neun Domänen« weiter präzisiert. Sie reichen von »psychischem Wohlbefinden« bis zur »Lebendigkeit« des Alltagslebens …
Eine Idee auf Weltreise
Alle revolutionären Konzepte entstanden simultan und unabhängig an verschiedenen »Brandherden« und entfachten so ein Lauffeuer rund um die Erde. In den Jahren 2008/2009 verankerten Ecuador und Bolivien ebenfalls das »Bruttoglücksprodukt« in der Verfassung. Gestützt auf das urindianische Prinzip des geglückten Zusammenlebens wurde die Natur erstmals als Rechtssubjekt definiert! Mit Vorbildwirkung: Seit 2011 erscheint der World Happyness Report der UNO und in Deutschland wird regelmäßig der Nationale Wohlfahrtsindex ermittelt …