BRENNSTOFF 48 | Langfassung
Ein jedes Ding hat zwei Seiten, eine helle und eine dunkle, und kann missbraucht werden. Auch das Wir. Gerade das Wir.
Ratten sind dem Menschen in Hinblick aufs Verhalten in vielem ähnlich, deswegen werden für psychologische Experimente oft Ratten herangezogen. Aus einem Buch über Verhaltenspsychologie, das ich während meines Studiums lesen musste, ist mir vor allem ein Experiment in Erinnerung geblieben, an das ich in den letzten Jahren immer wieder denken muss.
Die Versuchsanordnung sah vor, dass eine Gruppe von Ratten alle in eine Richtung in Bewegung gesetzt wurde. Dann versetzte man einer Ratte aus der Gruppe überraschend einen leichten Stromstoß. Die Ratte flüchtete in Panik von dem »gefährlichen Ort«. Die Panik übertrug sich auf die Mitglieder der Gruppe. Nun wechselte die ganze Ratten-Gesellschaft eilends die Richtung und flüchtete. Panik ist ansteckend, nicht nur unter Ratten, sondern auch in Menschen-Gruppen. Stimmungen verbreiten sich rasch, und ein unbestätigtes Gerücht kann zur Massenpanik führen, nicht nur im Fußballstadion, sondern auch auf der Börse.
Stimmungen sind ein beliebtes Mittel, um ein »Wir« zu erzeugen und auf diesem Wege Menschenmassen nach den Vorgaben eines Führers zu steuern. Einer der frühen Meister dieser Kunst war Edward Bernays, ein Neffe Freuds, dessen Eltern 1892 in die USA auswanderten. Ausgehend von der Annahme Freuds, dass Menschen im Wesentlichen irrational und triebgesteuert agieren, entwickelte er Methoden, um politische Haltung und Kaufverhalten der Massen zu beeinflussen und zu steuern. Rationale Argumente sind dabei Nebensache, entscheidend ist das Erzeugen von Stimmungen durch starke Bilder. Seine Methoden der Regulierung »öffentlicher Verhältnisse« – auf Englisch Public Relations, gehören heute zum selbstverständlichen Werkzeug jeder Werbefirma. Bernays trug in den 1930er Jahren mit seinen PR-Methoden wesentlich zur Ankurbelung der US-Wirtschaft bei, indem er Menschen massenweise dazu veranlasste, Dinge nicht mehr als Gebrauchsgegenstände, sondern als Medium der Selbstdarstellung zu kaufen.
Einer der effizientesten Nutzer von Bernays Theorie der Steuerung der Öffentlichen Meinung war Joseph Goebbels, Propaganda-Chef der Nationalsozialisten. Gleichschaltung und sorgfältig orchestrierten Massenveranstaltungen sollte die Ideologie des Nationalsozialismus in der Bevölkerung implementieren, sodass dies als selbstverständliche Wirklichkeit erscheinen sollte. Auch sowjetische oder chinesische Ideologen bedienten sich dieser Mittel, um ein »Wir« zu schaffen – in diesem Fall das »Wir« der Arbeiterklasse. Während der Kulturrevolution fiel diesem »Wir« nicht nur der allergrößte Teil des chinesischen Kulturerbes zum Opfer, sondern auch mehrere Millionen Menschen. Das Ziel war die Integration der Massen in den Produktionsprozess. Auch die westlichen Ideologen des Kalten Krieges bedienten sich der Propaganda, auch wenn diese weniger offensichtlich politisch und mehr auf die Etablierung einer Konsumgesellschaft ausgerichtet war.
In Zeiten des Internets lässt sich die Wirkung des »Wir« enorm vervielfältigen. Bei den letzten US-Wahlen setzten vor allem die Unterstützer Trumps Millionen »Bots« ein, nicht-menschliche Twitter-Konten, die wie Menschen reagierten – und etwa den Eindruck vermittelten, dass alle Hispano-Amerikaner Trump wählen. Meinungsmaschinen haben nach einer Untersuchung der Soziologen Howard und Kollanyi auch in der Abstimmung über den Brexit eine dominante Rolle gespielt. Meinungsmaschinen erzeugen soziale Konformität, und die ist für Menschen enorm wichtig.
Dies hat der Psychologe Solomon Asch 1951 in einem Experiment nachgewiesen. Einer kleinen Gruppe von fünf Leuten wurden mehrere unterschiedlich lange Striche gezeigt, die als »länger« oder „kürzer“ bewertet werden sollten. Wenn die ersten vier Personen – alle Vertraute des Versuchsleiters – erklärten, der kürzere Strich sei der längere, dann stimmte die Person Nr. 5, die tatsächliche Versuchsperson, fast immer dieser Bewertung zu. Nur ein kleiner Teil der Probanden – etwa 10% – blieb bei der eigenen Wahrnehmung. Der Konformitätsdruck nimmt zu, je größer und homogener die Gruppe ist, so Asch. Homogenität erzeugt Gruppendruck und verhindert eigenständige Meinungen.
Jene, die laut »Wir sind das Volk« rufen, nützen diese Mechanismen. Angst vor Fremden oder vor Attentaten lässt sich gut zu wirksamen Stimmungsglocken aufblasen. Konformitätsdruck wird erzeugt durch immer wiederholte Phrasen wie Arbeitslose seien »sozialer Bodensatz«, oder »Kontrolle der Demokratie durch das Volk«, »Muslime vs. christliches Abendland« usw. Der Populismus – zur Zeit dominant von rechts, doch gibt es auch linken Populismus – gewinnt seine Kraft durch Konformitätsdruck und Infektion durch Stimmungsmache. Dass diese politische Trance durchbrochen werden kann, haben die Wahlen in Österreich, Holland und Frankreich gezeigt. Wenngleich jeweils beträchtliche Segmente der Bevölkerung für populistische Positionen stimmte, erteilten die WählerInnen den populistischen Programmen doch eine klare Absage. Ein Zukunftsprogramm ist das noch nicht, aber ein deutliches Anzeichen eines »Wir«, das sich divers und demokratisch versteht.
Die politische Macht des »Wir« ist unbestreitbar, aber gerade deswegen ist sie hochgradig problematisch. Denn der Klebstoff, der das »Wir« zusammenschweißt, ist weitgehend reflexionsresistent und das macht das »Wir« zu einer gefährlichen Macht.
Denn das »Wir« mag von sich aus weder Vielfalt noch Diversität, ebenso wenig Reflexion und den Bezug auf Fakten. Nur wenn sich Gegenstimmen mit Nachdruck erheben, so zeigte das Experiment von Asch, löst sich der Konformitätskleber und es kann Beziehung und Kommunikation geben. Das zu bewirken und zu verstetigen ist die Aufgabe demokratischer Politik.